Ich habe Zygmunt am Sonntag getroffen. Ich machte einen Spaziergang durch den Regen und den beginnenden Herbst, von der Altstadt zu meinem Lieblingspark in Jakobsberg/Jakubowo. Von dort überquerte ich den alten deutschen evangelischen Friedhof zum katholischen Friedhof direkt dahinter, der noch viele deutsche und polnische Gräber aus der Zeit vor 1945 und danach enthält. Das Grab von Zygmunt, auf der linken Seite des Hauptwegs, stach für mich heraus. Sein dunkler Stein hatte die letzten Jahrzehnte fast makellos überstanden, und die Inschrift auf seinem Grabstein enthüllte etwas Entscheidendes.
Für mich haben diese wenigen Details wieder ein Schicksal offenbart, das so viele Menschen und Familien in ganz Osteuropa verbindet und welches für das 20. Jahrhundert repräsentativ ist. Zygmunt wurde in Österreich-Ungarn geboren, genauer gesagt in Galizien, derselben Provinz, aus der mein Lieblingsautor Joseph Roth stammt. Als er geboren wurde, gab es kein Polen. Ich frage mich, ob seine Familie ihr polnisches Erbe schätzte und ihn darüber und die polnische Geschichte unterrichtete, oder ob dies in ihrem Leben keine große Rolle spielte und sie unter dem österreichischen Kaiser glücklich waren. Wie viele andere Orte in den östlichen Kronländern war auch seine Heimatstadt Czortków (heute Chortkiv in der Ukraine) die Heimat vieler chassidischer Juden; es war ein grosses Schtetl und hatte eine grosse juedische Gemeinde. Hatte Zygmunt jüdische Freunde? Oder lebten die lokalen Gemeinschaften voneinander getrennt? Und in welcher Familie ist er aufgewachsen – in einer armen oder einer bürgerlichen? Hat er sein Zuhause verlassen, um zu studieren, vielleicht in Lemberg oder sogar in Wien?
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war Zygmunt 35 Jahre alt. Bis dahin musste er eine Familie oder zumindest eine Frau gehabt haben. Hat er in der österreichisch-ungarischen Armee gedient, fernab der Heimat? Oder ist er in Czortków geblieben und Zeuge des Einmarsches der Truppen des Zars im August 1914 geworden? In dem Fall verbrachte er die nächsten drei Jahre unter russischer Besatzung. 1917 wurden die russischen Truppen vertrieben und Galizien kehrte zu Österreich-Ungarn zurück. Für ein Jahr. Dann endete der Erste WeltKrieg und der Staat, in dem Zygmunt geboren wurde verschwand für immer. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Kämpfe in der Region beendet waren – das neu unabhängige Polen kämpfte gegen die neu unabhängige Ukraine um die Kontrolle über Galizien, das 1919 Teil der 2. Polnischen Republik wurde. Nur ein Jahr später marschierten erneut Truppen aus dem Osten ein, diesmal die Rote Armee, die im polnisch-sowjetischen Krieg gegen polnische Truppen kämpfte. Für zwei Monate wurde seine Heimatstadt sogar Teil einer galizischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Als Zygmunt in meinem Alter war, war Czortków wieder Teil Polens. Ich frage mich, was er gesehen haben muss, welchen Tod und Unglück, was all diese kriegerischen und politischen Unruhen für ihn und seine Familie bedeuteten. Hat er sich versteckt und versucht, mit seinem Leben weiterzumachen und sie so gut wie möglich zu beschützen? Oder war er ein leidenschaftlicher polnischer Nationalist, der vielleicht sogar in den Armeen der 2. Republik kämpfte?
Die Rückkehr nach Polen bedeutete jedoch keinen Frieden für die Region. In den nächsten Jahrzehnten gab es Spannungen zwischen der polnischen Regierung und der ukrainischen Bevölkerung, die schließlich zur Bildung der militanten Untergrundorganisation der ukrainischen Nationalisten führten, die Terroranschlaege auch gegen Zivilisten richtete. In den nächsten 18 Jahren erlebte Ostgalizien jedoch ein Minimum an Frieden und Wohlstand. Hat Zygmunt, der jetzt dem Ende seiner mittleren Lebensjahre zuging, davon profitiert hat? Wenn er ein Angehöriger der Mittelschicht war, dann besaß er vielleicht eine Kneipe oder ein Geschäft und war ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Er beobachtete, wie seine Kinder Erwachsene wurden und eigene Kinder bekamen. Vermisste er es von Zeit zu Zeit, Bürger des alten Reiches zu sein? Vielleicht, wie Joseph Roth, trauerte er noch lange dem alten Kaiser Franz-Joseph hinterher? Oder hat er seine polnische Identität in der 2. Republik als Patriot voll ausgenutzt?
In dem Jahr, in dem Zygmunt 60 Jahre alt wurde und vielleicht begann, sich auf seinen Ruhestand vorzubereiten, kam der Tod wieder einmal nach Czortków. Am 17. September 1939 marschierte die mit Nazideutschland verbündete Rote Armee in den östlichen Teil Polens ein. Zygmunts Heimatstadt wurde zum Schauplatz des ersten polnischen zivilen Aufstands gegen die Besetzung Polens, als im Dezember 1939 eine Gruppe junger Studenten versuchte, die örtlichen Kasernen der Roten Armee zu stürmen. 14 wurden bei dem fehlgeschlagenen Angriff getötet, 24 weitere gefangen genommen und in den folgenden Tagen erschossen, 50 in den GULAG geschickt. War einer von Zygmunts Enkeln unter ihnen?
In den folgenden Jahren deportierten die Sowjets fast 300.000 Menschen aus ihren neu besetzten Gebieten, Polen, Ukrainer, Weißrussen, Juden. War Zygmunts Familie davon betroffen? Andernfalls erlebten sie 1941 eine weitere Invasion. Die Wehrmacht marschierte im Rahmen der Operation Barbarossa, ihrer Invasion der Sowjetunion, in Galizien ein. Bevor sie das Gebiet verließen, erschossen die Rote Armee und der sowjetische Geheimdienst NKWD die meisten ihrer Gefangenen; Kriegsgefangenen oder diejenigen, die noch auf die Abschiebung in den GULAG warten. Der Wehrmacht folgten bald die Einsatzgruppen, Massenmordkommandos, die begannen, die einheimischen Juden und Zivilisten zu töten. Galizien wurde später als Distrikt Galizien in das Generalgouvernement (besetztes Polen) eingegliedert. Was hat Zygmunt gesehen? Was hat er getan? Ich nehme an, er sprach ein Deutsch als alter österreichisch-ungarischer Staatsbürger. Hat er sich also mit den Besatzern verständigt? Haben sie seine Kneipe oder seinen Laden benutzt, während sie dort waren?
Der Tod hörte nicht auf. In der Zeit verschärften sich auch die Konflikte in Galizien und Wolhynien zwischen Polen und Ukrainern, wobei es zu Gefechten zwischen der polnischen Heimatarmee, der ukrainischen Aufständischen Armee, der deutschen Wehrmacht und den sowjetischen Partisanen kam. Zu diesen Konflikten gehörten die Massaker an Polen in Wolhynien von 1943 bis 1945, bei denen rund 100.000 Polen von der ukrainischen Aufständischen Armee und anderen ukrainischen Organisationen auf schreckliche Weise getötet wurden, die Opfer oftmals verstümmelt und gefoltert. In Galizien kam es dann im Gegenzug auch zu Racheangriffen gegenüber Ukraineren. Was hat Zygmunt gesehen? War er verzweifelt darüber, wie die Welt um ihn herum zusammenbrach? 1945, als die Rote Armee in Czortków einmarschierte, war er 66 Jahre alt. Und dann war er dran. Irgendwann zwischen 1945 und 1947 wurde Zygmunt im Rahmen des Bevölkerungsaustauschs zwischen dem kommunistischen Polen und der sowjetischen Ukraine nach Allenstein/Olsztyn gebracht. Ich frage mich, wie er sich gefühlt haben muss. War er froh, die Blutländer hinter sich zu lassen, zu denen sein Zuhause geworden war? War er verzweifelt, weil er sein Haus verlassen musste, an dem er sich in den Wirren der letzten 30 Jahre festgehalten konnte? Oder hatten ihn seine Erfahrungen zum Fatalisten gemacht? Jemand, der mit dem Achseln zuckte und sagte: „Ich bin ein alter Mann. Wen kümmert es, wo ich sterbe?“
Jemand kümmert es. Zygmunt scheint zwar nicht mit seiner Familie gekommen zu sein – aber irgendjemand muss sich an ihn erinnern. Sein Grab ist ordentlich und sauber, und unter seinem Namen stehen frische Blumen. Unter seinem Namen und der Bemerkung „Repatriiert aus Czortków“.
Zygmunt
I met Zygmunt on Sunday. I went for a walk through the rain and the oncoming autumn from the old town to my favourite park in Jakubowo. From there I crossed over the old German Protestant cemetery to the Catholic one right behind it, which still contains many German and Polish graves from before 1945, and after. Zygmunt’s grave, on the left side of the main throughway, stood out for me. It’s dark stone had survived the last decades almost unblemished, and the inscription on his headstone revealed on crucial thing.
For me these few details revealed, again, a fate that connects so many individuals and families across Eastern Europe and is representative for the 20th century. Zygmunt was born in Austria-Hungary, in Galicia to be more precise, the same province my favourite author Joseph Roth is from. When he was born, there was no Poland. I wonder if his family was one that cherished their Polish heritage and taught him about his Polishness, or if it did not play a big role in their lives and they were happy under the Austrian Kaiser. Like many other places in the eastern crown lands, his hometown Czortków (Chortkiv in the Ukraine today) was also the home of many Hasidic Jews; it was a notable shtetl and had a significant number of Jews residing in the town. Did Zygmunt have Jewish friends? Or were the local communities mostly segregated? And what family did he grow up in – a poor one, or a middle-class one perhaps? Did he leave home to study, maybe to Lemberg perhaps, or even Vienna?
When World War 1 broke out, Zygmunt was 35. He must have had a family by then, or at least a wife. Did he serve in the Austrian-Hungarian army, away from home? Or did he stay in Czortków and witnessed the troops of the Car march into town in August 1914? If he did, he lived the next three years under Russian occupation. In 1917, the Russian troops were pushed out and Galicia returned to Austria-Hungary. For one year. Then the war ended and the state Zygmunt had been born in vanished forever. But that did not mean that the fighting in the area ended – newly independent Poland fought newly independent Ukraine for the control of Galicia, which was made part of the 2nd Polish Republic in 1919. Just one year later, it again saw troops marching in from the east, this time the Red Army which was fighting Polish troops in the Polish-Soviet war. For two months, his hometown even became part of a Galician Soviet Socialist Republic. When Zygmunt was my age, Czortków became part of Poland again. I wonder what he must have witnessed, what death he saw, what all that martial and political turmoil meant for him and his family. Did he duck and cover and just hoped to try and get on with his life and protect them as good as he could? Or was he a fervent Polish nationalist, maybe even fighting in the armies of the 2nd Republic?
Returning to Poland however did not mean peace for the region. For the next few decades, there were tensions between the Polish government and the Ukrainian population, eventually giving the rise to the militant underground Organization of Ukrainian Nationalists that also targeted civilians and committed atrocities. For the next 18 years, eastern Galicia did knew a modicum of peace and prosperity. Did Zygmunt, now moving towards the end of his middle years, benefit from it? If he was a member of the middle class then maybe he owned a pub, or a shop, and was a respected member of society, watching his children become adults and have children of their own. Did he miss being a citizen of the empire from time to time? Maybe, like Joseph Roth, still long for the old Kaiser Franz-Joseph? Or was he embracing his Polishness in the 2nd Republic fully, being a patriot?
In the year Zygmunt turned 60 and maybe started preparing for his retirement properly, death came to Czortków again. On 17 September 1939 the Red Army allied with Nazi Germany, invaded the eastern part of Poland. Zygmunt’s hometown became the location of the first Polish civilian uprising against the Nazi-Soviet occupation of Poland, when in December 1939 a group of young students tried to storm the local Red Army barracks. 14 were killed in the failed attack, 24 more taken prisoners and shot in the following days, 50 sent to the GULAG. Was one of Zygmunt’s grandchildren among them?
In the following years, the Soviets deported almost 300,000 people from their newly occupied areas, Poles, Ukrainians, Belarusians, Jews. Was Zygmunt’s family again affected by this? If they were not, they witnessed another invasion in 1941. The Wehrmacht marched into Galicia as part of Operation Barbarossa, their invasion of the Soviet Union. Before they left the area, the Red Army and the Soviet secret service NKVD shot most of their prisoners, POWs or those still waiting for deportation. The Wehrmacht was soon followed by the Einsatzgruppen, mass murder squads who started killing the local Jews and civilians. Galicia was subsequently incorporated into the General Government (occupied Poland) as Distrikt Galizien. What did Zygmunt see? What did he do? I assume he spoke a bit of German as an old Austria-Hungarian citizen, so did he communicate with the occupiers? Did they use his pub or shop while they were there?
Death kept coming. Conflicts in Galicia and Volhynia between Poles and Ukrainians also intensified during this time, with skirmishes between the Polish Home Army, the Ukrainian Insurgent Army, German Wehrmacht, and Soviet partisans. These conflicts included the massacres of Poles in Volhynia 1943-45, during which around 100,000 Poles were killed by the Ukrainian Insurgent Army and other Ukranian organisations in horrible ways, often mutilating and torturing their victims. Within Galicia, there were then also revenge attacks on Ukrainians. What did Zygmunt see? Did he become desperate over how the world was crumbling around him? He was 66 in 1945, when the Red Army marched into Czortków. And then it was his turn. At some point between 1945 and 1947, Zygmunt was relocated to Olsztyn, as part of the population exchange between communist Poland and Soviet Ukraine. I wonder how he felt. Was he glad to leave the bloodlands behind that his home had become? Was he in despair for leaving his home, one that he had clung to throughout the turmoil of the last 30 years? Or had his experiences made him a fatalist, someone who shrugged it off and said ‚I’m an old man. Who cares where I die?‘
Someone cares. While it does not seem that Zygmunt came with his family, someone must be remembering him. His grave is tidy and clean, and there are fresh flowers under his name. Under his name and the remark ‚repatriated from Czortków‘.
Hallo mein Junge,
Hast einen tollen Block geschrieben.Die fiktive Lebensgeschichte hast du toll und präzise dargestellt.
Hie erkennt man die gesamte Leidensgeschichte,egal von welcher Himmelsrichtung aus betrachtet.
papa
Ein guter Text, der zum Nachdenken anregt.
Ich lese Ihren Blog sehr gerne, mehr Beiträge fände ich toll.
Schön dass es die Institution des Stadtschreibers gibt, leider habe ich dieses erst spät entdeckt.
Der Park am Jakobsberg ist wunderbar.